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Warum überhaupt Neue Musik?
Auf eine Frage soll hier eingegangen werden, die immer wieder in unseren Gemeinden gestellt wird: Muss es unbedingt Neue Musik sein? Kann nicht auch immer wieder oder überhaupt ein schönes, wohlklingendes, den Ohren vertrautes Stück etwa aus Renaissance oder Barock im Kultus der Christengemeinschaft gespielt werden? Manchmal wird auch gesagt: Das Evangelium wird doch auch im Kultus gelesen, das ist doch noch viel älter als diese Musik. Die Christengemeinschaft hat sich bei ihrer Entstehung viel vorgenommen. So hat sie nicht nur die Erneuerung des Kirchenverständnissen überhaupt zum Ziel, sondern auch eine Befruchtung des kulturellen, sozialen, ja sogar des rechtlichen und wirtschaftlichen Lebens. Das lässt sich dadurch begründen, dass die Erneuerung durch den Kultus so umfassend und vielschichtig ist, dass sie - recht gepflegt und ernst genommen - auf alle diese Bereiche einen Einfluss ausübt. Man kann sagen: Wer mit dem Kultus über lange Zeit und regelmässig lebt, der wird das Bedürfnis verspüren, diese Bereiche neu zu erleben und neu zu formen. Galt es zum Beispiel Anfang der Dreissiger Jahre als geboten, trotz erster eigener Evangelienübersetzungen im Kultus selber weitgehend den Luther-Text zu verwenden, so ist es heute nahezu in jeder Gemeinde der Christengemeinschaft üblich, aus dem Leben der Christengemeinschaft entstandene Übersetzungstexte zu verwenden. Es stimmt also gar nicht, dass an dieser Stelle ja einfach überkommenes Altes gelesen wird. In Wirklichkeit ist das Evangelium ja nicht alt, sondern zu jedem Menschen in seiner Gegenwart gesprochen; und die Art, dass es so gehört werden kann, rührt von den - zugegebenermassen - mehr oder weniger glücklichen Versuchen der heutigen Ãœbersetzer in der Christengemeinschaft her. Das heisst: Aus der Anregung des Lebens mit dem erneuerten Kultus entstandene Ãœbersetzungen lassen das Evangelium heute schon eher “hören“ als ältere Übersetzungen, selbst wenn gelegentlich schlechtere Versuche dabei sind. Und der Kultus selbst? Ist er nicht auch uralt? Natürlich ist er das, denn er hat seine Quellen in den urchristlichen Lebensformen, ja greift sogar vorchristliches Mysteriengut auf. Trotzdem ist er im 20. Jahrhundert neu und dem heutigen Menschenbewusstsein gemäss entstanden und deshalb eben “neu”, “erneuert”. Es spielt dabei die Frage eine Rolle, ob das Wahre, Richtige immer zugleich das Älteste, zuerst Dagewesene sein und das Spätere nur Abschwächung, Nachahmung bedeuten kann. Oder kann es in der Evolution nicht auch dieses geben, dass sich in einem Prozess das, was zur Erscheinung kommen will, erst in einer unvollkommeneren Form verwirklicht und nach und nach erst in immer vollkommenerer Weise? So ist es ja auch in der menschlichen Biographie: Wir sehen zu Recht die kleinen Kinder als reine, unschuldige, unsere Ehrfurcht verdienende Wesen an; das Wesen dessen, der sich da inkarnieren will, seine differenzierten Fähigkeiten, Charaktereigenschaften und Entscheidungen, kommen aber erst nach Jahren und vielen Entwicklungsstufen voll zur Erscheinung. Auch die “neue Musik” ist nicht in allen Elementen neu. Wir haben es mit Tönen, mit zum Teil vor langer Zeit entstandenen Instrumenten (auch in diesem Bereich sind längst Weiterentwicklungen vorhanden), mit Melodie, Harmonie, Rhythmus zu tun. Auch hier handelt es sich also gar nicht um etwas, was keine Wurzeln in der Vergangenheit hätte, sondern nur um eine Erneuerung, eine Weiterführung aus dem Geist des erneuerten Kultus heraus. Diese beiden gehören zusammen, hängen voneinander ab, und nicht nur diese Bereiche. Es hat ja etwas Begeisterndes, dass hier eine umfassende Erneuerung des gesamten menschlichen Lebens versucht wird, die in sich stimmig und schlüssig zu sein bestrebt ist. Freilich sind die Hörgewohnheiten und die “persönliche Beschränktheit“ im obigen Sinn in Bezug auf die Musik besonders auffällig. Hinzu kommt noch, dass die Musik die einzige Kunst ist, deren Entfaltung durch Ungeweihte nicht in Vorbereitung auf den Kultus, also vor Beginn der eigentlichen Handlung geschieht (Kirchenbau, Altarbild, Geräte, Gewänder etc.), sondern mitten im tatsächlichen Vollzug des Kultus, zusammen mit dem Priester und den Ministranten. Das bedingt eine Verantwortung, die einem bisweilen viel leicht so hoch erscheinen mag, dass man lieber gar nicht erst beginnt. Hilfreich ist in einem solchen Fall einzig der Gedanke, dass es aber gewollt wird, dass die Musik zum Kultus gehört und jemand da sein muss, der sie macht. Gerade aus diesem Grund kann es sich nur darum handeln, dass die Gemeinde und die Priester der Gemeinde den Musikern helfen, ihre schwierige Aufgabe zu erfüllen. Das können sie durch Unterstützung und Bestätigung tun, aber auch durch Kritik. Was nun diese angeht, ist sie ja dem Tätigen prinzipiell immer willkommen. Sie wird aber vor allem dann leichter angenommen, wenn sie in dem Bewusstsein der oben angedeuteten “Beschränktheit“ in Bezug auf ein allumfassendes Urteilsvermögen und somit als subjektiv gemeinte, persönliche Gemütsäusserung, nicht als objektiv gelten wollendes und womöglich vernichtendes Verurteilen angebracht wird.
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